Im Schatten der Sonne

Kurzgeschichten aus Sol Oritur

Von Königen und einem großen Krieg

„Im Namen des Königs wird hiermit verlautbart, dass all jene, welche fähig sind, Dienst an der Waffe zu tun, sich erheben. Unter dem Banner unseres Reiches und denen unserer Nachbarn werden wir ein hoffentlich letztes Mal in unserer Zeitrechnung gen Osten ziehen, um dem Treiben der verdorbenen Priestern, den Entweihern der Ruhestätte unserer Urväter, Einhalt zu gebieten.Es ist an der Zeit, denn das Dunkel droht auch unseren Himmel zu erreichen. Deswegen erhebt euch Bürger von Hyrata. Greift zu den Waffen und folgt eurem Herrscher. Kämpfet, auf dass die Sonne erneut über unserem Reiche ihren Zenit findet.“

Es waren keine zwei Monde vergangen, nachdem sich die Herrscher der fünf Reiche, welche in jenen Tagen den Kontinent der aufgehenden Sonne unter sich aufteilten, getroffen hatten, da hallten die Stimmen der ehrenwerten Herolde von Kapura, dem König von Hyrata, durch die Gassen der Städte seines Reiches. Sie wurden vernommen bis in die entlegensten Winkel seines Reiches und weit darüber hinaus.

Die Bedrohung aus dem Osten war nicht neu. Bereits vor über 8000 Jahren haben die einst geachteten hohen Priester der Zitadelle der Ahnen Verrat an ihren Werten geübt. Aus Gier und Niedertracht heraus schändeten sie die Leichname, die ihnen die großen Völker dieser Welt anvertraut hatten. In einem grausamen Ritual erweckten sie das Böse, das in den Tagen von Kapura nun die Existenz, nicht nur der Reiche von Sol Oritur, sondern die der ganzen bekannten Welt bedroht.

Die Ältesten unter den Muftis der Gilde der Baumgelehrten hatten bereits in den ersten Tagen der dunklen Bedrohung vorhergesagt, dass diese neue Macht am Horizont den Niedergang der Menschheit besiegeln kann. Immer wieder haben sie die stolzen Könige ersucht, sich gemeinsam der neuen Bedrohung zu stellen. Immer wieder waren sie abgewiesen worden. Durchsetzt von falschem Stolz und selbst zu sehr besessen von der eigenen Macht, waren Könige in jenen Tagen nicht in der Lage zu sehen, welch Schrecken sich zusammenbraute.

Argrald, Früst Gry, König von Dyphretor verkroch sich hinter die hohen Mauern der Festung Gry, die einst seine Urahnen erbaut hatten. Hier, so war er sich sicher, konnte das Böse ihn nicht heimsuchen. Ähnlich verhielt sich auch Illserion X, der König der Cyrifaten. Aaren Thalor, seine Hautstadt, war nie gefallen. Der schmale Pfad hinauf bis zum große Tor war schmal und matschig. Schwer bewaffnete Truppen fanden hier kein Durchkommen. Estra, die Königin von Lophrat, hingegen glaubte, mit ihren schnellen Schiffen jederzeit in Sicherheit gelangen zu können. Ähnlich waren auch die Gedanken von Sidomir, dem großen Anführer und König der Katalen. Und Hyrdoric XVII, König von Hyrata und Urgroßvater von Kapura, hielt es für sinnvoller, eine Festung am anderen Ende der bekannten Welt zu errichten, statt dem Rat seine Weisen zu folgen.

Nun jedoch war der Zeitpunkt gekommen, an dem es den Weisen des Baumes gelungen war, alle Herrscher zu versammeln. Anoretha war zu diesem Zeitpunkt bereits an die dunklen Mächte gefallen, Die Grenztürme von Katalya längst geschliffen. Die Heere von Dyphretor, Cyrifata und Lophrat waren durch Bürger- & Bruderkriege beinahe aufgerieben und die letzten Truppen, die dem König der Katalen noch zur Verfügung standen, hatten sich in Crayum verschanzt – belagert von den Mächten des Dunkeln und bedroht von marodierenden Truppen aus Lophrat. Es war dunkel geworden. Die Muftis hatten es schon lange gesehen und doch steuerten die Menschen immer weiter auf die Katastrophe zu.

Jetzt, im wohl allerletzten Moment jedoch schien die Vernunft einzukehren. Seit bereits sieben Monden saßen sie alle gemeinsam an einem Tisch. Seit sieben Tagen schwiegen die Schwerter auf den Schlachtfeldern der Menschen. Und dann geschah es. Kapura, König von Hyrata erhob seine Stimme und erklärte sich bereit alle kampffähigen Männer seines Reiches zu mobilisieren, um an der Seite seiner Brüder im Throne das Dunkel ein für alle Mal aus den Landen der aufgehenden Sonne zu vertreiben. Lange hatte er mit sich gerungen, mehr als ein mal war er bereit, auf die Dämmerwacht überzusiedeln und seine Länder dem Verfall zu überlassen. Nun jedoch, das wusste er, war es an Ihm über das Schicksal aller zu richten. Und so sagte er: „Meine Brüder, seit hunderten von Jahren erhebt ihr die Schwerter gegeneinander, bringt Leid über euer Volk, lasst euch leiten von blindem Hass, von Niedertracht und Habgier. Es ist an der Zeit, dem ein Ende zu setzen. Ich will gemeinsam mit euch gen Osten ziehen. Gemeinsam können wir die Finsternis zurückdrängen und den Himmel über unseren Landen von der Dunkelheit befreien.“ In den darauf folgenden Stunden schien der Mond heller, als er es zu Lebzeiten der Weisen je getan hatte. Er war, so heißt es in den Sagen, ein Zeichen der Hoffnung. Mit neuem Mut im Herzen schworen sich die 5 Könige, niemals mehr das Schwert gegeneinander zu erheben. Sie erkoren Kapura zum Ersten unter Gleichen. Er sollte fortan über das Schicksal des Kontinents bestimmen. Und so schworen sie es sich, gesegnet vom Ältesten aller Muftis.

Kaum hatte er seine Hauptstadt, Sol Arrat, erreicht, ließ Kapura die Heerschau beginnen. Die Herolde strömten in die Nacht, die Schmiede ließen mit ihren Hämmern das Lied von Krieg und Tod erklingen. Es fielen binnen weniger Tage ganze Wälder und selbst in den ältesten Schächten wurde noch das letzte bisschen Metall aus dem Berg geholt.

Niemand wusste in diesen Tagen der Vorbereitung, was auf dem Schlachtfeld zu erwarten sei. Doch selbst die grausamsten Erzählungen von verunstalteten Menschen, Untoten, Geistern und grausamen Qualen vermochten es nicht, die Männer zu erschrecken. Zu sicher war der Tod, zu deutlich war der Untergang am Himmel. Es sollte der letzte große Krieg der Menschen werden. Das letzte Blutvergießen auf dem Kontinent der aufgehenden Sonne. Ein letzter Ritt ins Ungewisse.

Anoretha, gelegen auf einer Insel, verbunden mit dem Festland durch nur eine Brücke -gleichwohl jedoch nur schwer zu verteidigen-, sollte das erste Ziel der neuen vereinten Streitmacht der fünf Königreiche sein. Wenngleich die Insel strategisch nicht von besonderer Bedeutung war, für die Moral der Soldaten zu Fuß und zu Pferd würde es ein immenser Schub sein, sollten sie die Hauptstadt der Katalen von den Mächten des Bösen befreien.

Es war ein besonders grauer Morgen, als sich tausende und abertausende Soldaten bereit machten, das Böse zu überrennen. Auf den roten Bannern, die die stolzen Ritter ins Feld führten, prangten goldene Sonnen und selbst die einfachsten Soldaten hatten ihre Rüstungen mit gelber Farbe verziert, ehe sie nun zu dem Donnern der Trommeln in die erste Schlacht zogen. Über Tage hinweg rollten sie, Welle für Welle auf die Barrikaden zu, machten eine nach der anderen dem Erdboden gleich und standen schließlich in mitten der verkohlten Überreste einer stolzen Stadt. In Anoretha wehten wieder die Banner der Menschen und die Gesänge der triumphierenden Soldaten schalten weit über die Meere, gar bis ins entfernte Amnoon.

Getragen von einer der Welle der Euphorie, schlossen sich immer mehr Freiwillige dem Heer an. Selbst aus den entlegensten Winkeln der Gebirge zogen ganze, noch immer autonom lebende Stämme hinab auf die Felder, um sich dem Kampf anzuschließen. Und es sollten noch viele Schlachten folgen.

Auf den Feldern von Crayum stieg im 120. Jahr des gemeinsamen Krieges eine der wohl größten Schlachten, die die Menschheit je gesehen hat. Überlieferungen berichten von mehr als hunderttausend Mann, die sich unter den roten Sonnenbannern versammelt hatten. Die Schergen des Bösen hatten hier ihr Feldlager errichtet. Hier ersuchten sie in grausamen Zeremonien die dunklen Mächte um Beistand. Und hier wurden sie von einer Streitmacht sondergleichen dahin geschlachtet.

Das Böse jedoch bäumte sich nach dieser großen Niederlage noch ein letztes Mal auf. Begleitet von einem tosenden Gewitter, stürmten sie wie aus dem Nichts kommend auf Anoretha zu. Getrieben von blindem Hass, versuchten sie alles zu töten, was ihnen vor die Klinge kam. Es war schon beinahe zu spät, als schließlich weitere Truppen aus dem Westen dem anstürmenden Bösen in den Rücken fielen.

Selbst mit zahlreichen weiteren Siegen im Feld gelang es den Truppen der Sonne erst im 177 Jahr des Krieges, das Böse gänzlich aus Sol Oritur zu verbannen. Im Dunkelwald zu Notra hatten sich die wohl letzten Truppe des Bösen gesammelt. Umringt von zahlreichen Barrikaden hatten sie dort einen Kristall errichtet, der sie direkt mit den Priestern der Zitadelle verband.

Über Wochen, gar über Monate hinweg, gelang es den Truppen des Bösen die Angriffe abzuwehren. Immer wieder konnten sich sie auf weitere Befestigungen zurückziehen und auch das dichte Unterholz des Waldes erschwerte das Vorankommen. Jedoch unbeeindruckt von den teilweise schweren Verlusten, folgte ein Vorstoß auf den nächsten. Und je häufiger sie gegen das Böse anrannten, umso häufiger schafften sie auch, es zurück zu drängen. Und am 98 Tag des 8327 Jahres des zweiten Zeitalters geschah es dann. Eine von Kapura selbst angeführte Truppe schaffte es, die letzten Barrikaden zu durchbrechen und bis zum Kristallplatz vorzudringen. Gewillt, den Kristall zu zerstören, stieg Kapura mitten im Getümmel von seinem Ross herab, reckte seine Klinge gen Himmel und schlug zu. Der Kristall zersplitterte. Die Vorrichtung, die ihn aufrecht hielt, brach in sich zusammen und ein grelles Licht fuhr durch die Klinge, die den Kristall zerstörte.

Das Böse war besiegt, der Kontinent der aufgehenden Sonne befreit.

Und wieder ist es einer dieser Tage. Die Festung Gry liegt begraben unter einem heftigen Nebel. Es ist zu dieser Zeit im Kalender gewöhnlich, dass des morgens ein Nebel im Tal vor der Festung aufsteigt. Ein Nebel wie dieser jedoch ist ungewöhnlich. Allen voran ist er dies, weil er wie ein Schleier über der Festung liegt. Es ist fast so, als wolle er etwas verdecken.

Am Fuße der Festung, wenngleich durch den grauen Schleier heute nur schwer zu erkennen, liegt die Stadt Grytrakk. Bereits seit den Tagen der ersten Könige, weit in den Zeiten der Ahnen gibt es hier eine Siedlung. Bereits relativ früh sogar eine befestigte. Hier entstand einst die wohl erste Zitadelle der Menschen. Und schon lange, bevor es die fünf Königreiche unserer Zeit gab, lange vor den ersten Bruderkriegen entstand hier eine Festung.

Diesertags ist Grytrakk eine der bedeutendsten Städte auf dem ganzen Kontinent der aufgehenden Sonne. Hauptstatt der Könige Dyphretors. Ruhestätte aller, die jemals den Titel eines Fürsten Gry haben tragen dürfen. Heimat der bedeutendsten Krieger der Menschheit und der wichtigsten Umschlagpunkt für Edelmetalle und Juwelen aller Art. In dieser Stadt erheben sich die großen Hallen der Gilde des grauen Mantels, hier wird das Wissen der Ahnen gesammelt und gelehrt.

Tief unter der Stadt in den weiten uralter Stollen, Zisternen und Höhlen, so heißt es, liegen bis heute Zeugnisse der Zeit, in der die Berge, die Täler, die Weiten und Küsten des Kontinents von Urwesen und seltsamen Geschöpfen bewohnt waren. Hier finden sich Spuren der ersten Menschen. Jener Menschen, die sich die Berge und Flüsse der Region unterwarfen. Die hier den Grundstein für eine mächtige Metropole legten. Noch heute steigen die Graumäntel hinab in diese Tiefe, um in immer neuen Tunneln immer mehr über die Vergangenheit zu erfahren.

Umgeben ist Grytrakk von mächtigen Befestigungsanlagen gekrönt wird die Stadt von einer Feste, die weit über die Grenzen Dyphretors hinaus ihres gleichen sucht. Hinten der Mauern dieser Stadt, so waren sich alle, vom einfachsten Bauern bis hin zu den ältesten Weisen der Graumäntel, einig: Hier war der sicherste Ort in Sol Oritur.

Und doch. Dieser Nebel. Dieser schwere Schleier, der er sich über die Stadt und die Festung gelegt hatte, er war ungeheue